ECTS-Gerechtigkeit: Realität oder Utopie?
Am 8. März 2022 fand am ZHR eine angeregte Online-Diskussion zum Thema „ECTS-Gerechtigkeit: Realität oder Utopie?“ statt.
Nach der Begrüßung durch ZHR-Leiter Univ.-Prof. Dr. Klaus Poier und dem Grußwort des geschäftsführenden Rektors Dr. Peter Riedler diskutierten am virtuellen Podium – unter der Moderation von Mag.a Alice Senarcens de Grancy, MSc, Die Presse - FH-Prof. Dipl.-Ing. Werner Fritz, Leiter des Instituts für Informationsmanagement, Vizerektor a.D., FH JOANNEUM, Naima Gobara, stv. Vorsitzende der ÖH, Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Sibylle Kneissl, Klinische Abteilung für Bildgebende Diagnostik, Vizerektorin für Lehre a.D., Veterinärmedizinische Universität Wien, und MinR Mag. Heribert Wulz, stv. Leiter der Hochschulsektion sowie Gruppenleiter im BMBWF. Insgesamt nahmen rund 170 Personen via Livestream und Chat an der Veranstaltung teil.
Debatten rund um die ECTS-Gerechtigkeit sind ein omnipräsentes Thema im Alltag der Studierenden und für die Hochschulen. Die ECTS-Gerechtigkeit spielt bei der Einschätzung des realen Arbeitsaufwands von Prüfungen im In- und Ausland eine große Rolle und sorgt immer wieder für Diskussionsbedarf. Hochschulen werden seit dem Bologna-Prozess verstärkt in die Verantwortung genommen, eine angemessene und gerechte Verteilung des sogenannten Workload herzustellen. Das „European Credit Transfer and Accumulation System“, kurz ECTS, soll dafür seit 1999 Leistungen von Studierenden international leichter vergleichbar und messbarer machen.
MinR Mag. Wulz betonte, dass sich das ECTS-System in Österreich zwar schon gut etabliert habe, aber die Workload-Gerechtigkeit und die dahinterstehende Umsetzung der Hochschulen immer noch zum Teil in Diskussion stehe. Auch die UG-Novelle 2021 setzte sich zum Ziel, das Thema der ECTS-Gerechtigkeit aufzugreifen, um faire Rahmenbedingungen im Bereich der Qualitätssicherung zu schaffen. Wulz wies daraufhin, dass die mangelnde Effizienz im Studium, die lange Studiendauer, die hohen Drop-out-Quoten, die Prüfungskulturen und das sogenannte „Studieren auf Österreichisch“ für eine notwendige Systemsteuerung seitens des Ministeriums verantwortlich seien. Die Frage nach dem Workload bzw nach der ECTS-Gerechtigkeit sei nur ein kleiner wichtiger „Telosaspekt“. Wulz akzentuierte, dass das Gesamtsystem betrachtet werden müsse und dass es in der Verantwortung der Hochschulen liege, die ECTS-Gerechtigkeit systematisch einzubetten und zu verwirklichen.
Naima Gobara brachte die Studierendensicht in die Diskussion ein und bekräftigte, dass das System weit weg von der Realität sei. Gobara stellte die Frage, ob es überhaupt einer Gerechtigkeit bedürfe und wenn ja, was eigentlich Gerechtigkeit in diesem Kontext bedeuten würde. Sollten überhaupt alle Studierenden, egal in welchem Studium sie inskribiert sind, den gleichen Arbeitsaufwand haben und dasselbe leisten müssen? Die ÖH-Vertreterin machte darauf aufmerksam, dass die Frage nach der ECTS-Gerechtigkeit nicht mit der Frage nach der Studierbarkeit gleichzusetzen sei. Die Rahmenbedingungen seien nicht so gegeben, wie sie die Studierenden benötigen und sich wünschen würden. Kritisiert wurde, dass das ECTS-System zu einem Machtinstrument der Curricula-Kommissionen geworden sei und dieses eine universitätspolitische Währung darstellen würde. Die in den Curricula vorgegebenen ECTS würden keine Planungssicherheit für die Studierenden schaffen und zu keiner besseren Studierbarkeit führen.
Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Sibylle Kneissl warf einen Blick in die Praxis und skizzierte anhand eines Paradebeispiels an der Veterinärmedizinischen Universität, wie Hochschulen dieses Thema aufgreifen und den individuellen Workload der heterogenen Studierendenschaft identifizieren bzw quantifizieren können. Die Veterinärmedizinische Universität setzt bei der Messung des täglichen Workload auf die App „Studo“. Sie betonte, dass das ECTS-System zwar ein gutes, aber ein sehr ungenaues Konzept sei. Sozioökonomische Faktoren, die in der Sphäre der Studierenden liegen, könnten nicht adäquat abgebildet werden. Außerdem merkte sie kritisch an, dass 1 ECTS-Credit im internationalen Vergleich eine unterschiedliche Anzahl an Arbeitsstunden beinhaltet. So seien es in Österreich 25 echte Arbeitsstunden, hingegen in Deutschland 30 echte Arbeitsstunden. Kneissl führte aus, dass das Curriculum mit einem Routenplaner, die Anzahl der ECTS pro Studienjahr als Tachometer und die Zeit, welche pro Lehrveranstaltung aufgebracht wird, mit einem Gaspedal gleichzusetzen sei. Zudem plädierte sie dafür, dass die „Curricula-Designer“ die Studierenden aktiver in den Prozess integrieren sollen.
FH-Prof. Dipl.-Ing. Werner Fritz beleuchtete die Fachhochschulperspektive. Fritz akzentuierte, dass sich bei FH-Studiengängen die Regelstudiendauer mit der faktischen Dauer in der Regel decke. Hervorgehoben wurde auch, dass die FHs jünger sind und daher auch weniger mit der ECTS-Tradition behaftet seien. Der ehemalige Vizerektor machte auch deutlich, dass sich die Orientierung in der Betrachtung der Curricula im Laufe der Zeit verändert habe. Diese sei früher stark lehrenden-zentriert und output-orientiert gewesen. Nun würde man zunehmend die Studierenden in den Fokus der Betrachtung rücken.
Zusammenfassend lässt sich aus der Diskussion ableiten, dass das ECTS-System für die Qualitätssicherung und die bessere Studierbarkeit verstärkt einen Beitrag leisten könnte. Das Podium sprach sich jedoch unisono dafür aus, dass der Evaluierung von Lehrveranstaltungen mehr Gewicht beigemessen werden müsste und dass die Studierenden stärker in den Mittelpunkt gestellt werden müssten. Die Studierenden sollen sich vor allem aktiv an der Gestaltung eines gerechten Systems von Studienleistung und tatsächlichem Arbeitsaufwand beteiligen können und müssen. Schlussendlich wird die Diskussion der ECTS-Gerechtigkeit ja im Interesse der Studierenden geführt.
Hier finden Sie den Link zur Aufzeichnung der Veranstaltung: Unitube
Leitung
Klaus Poier
Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft
Kontakt
Gudrun Bergmayer
Sekretariat
Zentrum für Hochschulrecht und Hochschulgovernance
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